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Hamouka
von Klaus Maeck

Marokko 2001

Das erste Mal, dass ich die Musik von 'Jajouka' hörte, war vor vielen Jahren in Burroughs' altem Steinhaus in Lawrence, wo ich ihn unter dem Vorwand eines Interview-Auftrages besuchte.

"Ich habe mich nie wirklich für Musik interessiert, eine Ausnahme ist die Musik marokkanischer Eingeborener ... Brian Jones hat das einmal aufgenommen, ich hab die Kassette noch da." Er geht in sein Arbeitsstudio, holt ein Tape und legt es in einen auf dem Fußboden stehenden Kassettenrekorder ein. "Jones hat das dort aufgenommen und zuhause abgemischt, bald darauf ist er gestorben. Und seine Stones-Kollegen haben nie ein großes Interesse daran gehabt. Diese Musik ist zweitausend Jahre alt! Hörst du die Hunde im Hintergrund?"

Reichlich Hundegebell und immer wieder Stimmen im Hintergrund. Burroughs selbst lief nervös in seiner Wohnung hin und her und murmelte ab und zu Unverständliches. Vielleicht finde ich die Tapes, die ich derzeit bei ihm aufgenommen habe, ja doch eines Tages wieder. Ich ahnte nicht, dass ich dort über etwas Großartiges gestolpert bin, etwas, das größer ist als das Leben. Zwanzig oder dreißig Jahre bedeuten nichts im Verhältnis zum Wert und der Qualität eines Gedanken, einer Kultur, oder einer Musik. Zwanzig Jahre und ich tauche immer noch tiefer ein in die Welt der Protagonisten, die mich dorthin geführt haben, lerne die Orte kennen, an denen diese aufsässigen Figuren der Zeitgeschichte das Leben gelernt haben. Ich übernachte in dem kleinen Hotel, in dem Burroughs seinen ersten langen Roman geschrieben hat, in dem ihn Kerouac und die anderen Beats besucht haben, und organisiere von da aus meine Weiterreise nach Jajouka, dem legendären Bergdorf, wo die Musiker des Attar-Clans seit Jahrhunderten eine traditionelle Trance-Musik spielen, die von so vielen einflussreichen Musikern der Welt als einzig und großartig anerkannt wird. Obwohl keiner weiß, dass ich heute komme, werde ich am kleinen Flughafen von Tanger abgeholt.

"Du auch hier?" Sofort fallen mir alte Burroughs-Tanger-Routines ein: "My dear, anything can happen in Tangiers." Everything is possible. (Nothing is true.) In einem klapprigen R4 bekomme ich einen Lift in die Stadt, wo ich feststellen muss, dass das Hotel, das ich per Internet gebucht hatte, schon seit zwei Jahren geschlossen ist. Auf der Suche nach einem anderen Hotel lande ich nicht zufällig in der Villa Muniria und beziehe eines der beiden Zimmer im zweiten Stock mit Blick über eine kleine Terrasse und einen Garten auf das darunterliegende spanische Viertel und das Meer.

Habe ein Quartier aufgetan, in dem alles läuft. Gehört einer ehemaligen Puffmutter aus Saigon. Wir teilen uns das Erdgeschoss, mit eigenem Eingang und unsere Zimmer liegen zum Garten hin. "Sie haben hier alle Freiheiten, verstehn Sie?", sagt die alte Hure und knufft mich in die Rippen. Ein Zimmer mit einem Bett, in dem sich gewöhnlich spanische Boys tummeln. Die Sitten sind hier so locker, das kannst du dir nicht vorstellen.

Ich atme tief durch, ziehe mir die Atmosphäre durch die Nase, wenn schon nichts anderes mehr da ist, ich sammle ein paar vergessene Worte vom Fußboden und klebe sie in mein Journal. Ich mache einen Streifzug durch die Kasbah, um zu sehen, ob alles noch beim Alten ist. Seitdem auch der alte Bowles tot ist, fehlt etwas in Tanger. Die Vergangenheit holt mich sofort ein, als mich ein fies aussehender aufdringlicher Hustler anspricht. "You wanna see Cafe Rolling Stone?" Seit wieviel Jahren ist das hier der Standardtrick, um Touristen abzuzocken. Nein danke, das Vergnügen hatte ich schon. Es riecht wie immer streng nach Urin und Müll in den kleinen Gassen, und der Socco Chico ist wie eh und je bevölkert von Mint-Tea-trinkenden Männern in Djellabas oder alten Jeans, von Hustlern und anderen herumlungernden Nichtsnutzen. Schweigend sitzen sie an den Cafetischen. Nur die allgegenwärtigen Handys der jüngeren Leute bringen ein wenig Leben in die Szene, wie überall auf der Welt werden sie eifrig verglichen und ausprobiert, ein ständiger Alarm aller möglichen und unmöglichen Klingeltöne ohne jede Rücksicht. Ansonsten hat sich hier nichts geändert. Irgendwie beruhigend.

In anderen Teilen der Stadt macht sich das neue Leben breit. Der alte schöne Bahnhof am Strand wurde zu klein und daher geschlossen. Tanger soll ein Zentrum des Glücksspiels werden, das größte Kasino Afrikas wird im April eröffnet und soll reiche Klientel aus ganz Arabien und dem Rest der Welt anziehen. Auffällig wie schon immer ist die große Anzahl an unvollendeten Großbauten und leerstehenden Wohn- und Bürohochhäusern, was hier immer wieder mit hochgegangenen Drogendealern in Verbindung gebracht wird. Möchte nicht wissen, wie es in Marokkos Knästen aussieht.

Neu sind die zahlreichen Internet-Cafes, die hier an jeder zweiten Ecke Ableger eröffnen. Während ich geduldig versuche, ein paar geschäftliche Mails zu beantworten, die meiste Zeit jedoch auf den langsamen Aufbau jeder neuen Seite warte, telefoniert neben mir ein altes Ehepaar über das Internet mit entfernten Verwandten via Webkamera, und gegenüber spielt eine Familie irgendein amerikanisches Ballerspiel im Netz. Zu dritt sitzen sie an den Rechnern um mich herum, Papa, Mama und der zehnjährige Sohn, und lauern sich in einer virtuellen Stadt mit hochkalibrigen Maschinenpistolen auf, um sich gegenseitig abzuknallen. Die junge Mama, in knöchellangem Gewand mit einem Kopftuch, über dem dann noch der Kopfhörer für die Sounds befestigt ist, lächelt jedesmal etwas verlegen, wenn sie wieder ihren Sohn erschossen hat und nur noch große Blutflecken auf Straßen und Wänden übrig blieben. Neues Spiel, neue Chance.

Ich träume, dass ich an beiden Brustwarzen gepierct bin. An einer Brustwarze hängt ein kleiner Schlüsselbund mit einer Handvoll Minischlüssel, wie man sie für Kassen oder Koffer benutzt. An der anderen Brustwarze hängt ein einzelner kleiner Schlüssel. Ich betrachte mich und zweifle an meinem Geschmack.

Jajouka in der wievielten Generation. Es gibt Strom, Baby. Zumindest einen Generator. Handys und Satellitenschüsseln. Wir fahren durch strahlend sattes Grün und die Nachmittagssonne beleuchtet das Dorf auf dem Berghang wie ein Spotlight den Sänger, ein leuchtender Fleck am Horizont, wie auserwählt, besonders .... wenn man sich das einbildet. Die holprige Auffahrt zum Dorf schafft unser mutiger Taxifahrer fast spielerisch, langsam bewegt er seinen Benz zwischen scharfen Steinbrocken und großen Schlaglöchern bis hoch zum Dorfplatz. Diese Auffahrt gehört zur Legende wie alles andere, wie viele Rockstars und andere Celebrities sind hier schon mit dem Esel abgeholt worden.

Wir, das sind ein kleiner Haufen eingeladener Journalisten und angereister Fans, zwanzig Leute aus aller Herren Länder, die von der Musikerfamilie auf's Herzlichste verköstigt und untergebracht werden. Mickjagger und der Sohn des Königs wollten eigentlich auch kommen, doch dafür hätte das Fest extra verlegt werden müssen. Soweit geht die Liebe dann doch nicht. Das Fest findet diesmal auch nicht auf dem Dorfplatz, sondern im Haus der Familie statt. Que pena. Aber wieviel kann von einer solch alten Tradition wirklich über die Jahrhunderte gerettet werden?

"Ich bin Bou Jeloud", schreit die stinkende Kreatur, halb Tier, halb Mensch, und stiebt über die Tanzfläche, versucht dabei, einige der Zuschauer mit seiner langen harten Rute zu schlagen, "ich bin Vater der Herden. Meister der Felle. Gott der Ziegen. Ich bin Pan." Ein Höhlenmensch aus den umliegenden Bergen, der sich jedes Jahr einmal im Dorf nach einer Frau umsieht, die ihm versprochen wurde. Nur mit ein paar Schafsfellen bekleidet überfällt er spät nach Mitternacht das Fest, das seit dem späten Nachmittag gefeiert wird, mit der typischen monotonen Trance-Musik, die von einem knappen Dutzend traditioneller Musiker mit ihren Rhaitas, Flöten und Trommeln gespielt wird. Je mehr Bou Jeloud ausflippt, je mehr er sich auf den Boden wirft und immer wieder die Musiker anfeuert, desto wilder wird die Musik. Die Musiker stehen auf und tanzen mit dem Ziegengott, jagen sich spielerisch und beruhigen sich erst wieder, als eine Frau die Tanzfläche betritt, die einzige Frau, die hier weit und breit in der Öffentlichkeit zu sehen ist. Die Musik wird langsamer, es sind Variationen für Bou Jelouds Freundin, Aisha Hamouka, deren Aufgabe es ist, Bou Jeloud in die Stadt zu locken, so dass sein Segen, seine 'Baraka', dem Stamm zugute kommt. Sagt man.

Zu gerne möchte ich beim echten Fest dabei sein, und irgendwie bin ich sicher, dass es das auch gibt, the real thing, in seiner dörflichen, traditionellen Form. Schwierig herauszufinden, wenn man des Arabischen nicht mächtig ist, vielleicht hätte ich der Einladung des alten Mannes folgen sollen, der vor seiner etwas abseits des Weges gelegenen Hütte lag, sich eine Pfeife stopfte und mir auf dem Weg durch das Dorf fast unmerklich zuwinkte, als hätte er ein Geheimnis für mich.

Der Streit um die Anführerschaft in der Familie des Musiker-Clans dauert nun schon sehr lange. Der elementare Konflikt zwischen Tradition und Moderne, zwischen Folklore und Kommerzialität, zwischen dem Lokalen und dem Globalen, dem Heiligen und dem Profanen, zwischen dem Alten und dem Neuen. In den Pausen, wenn die 'Master Musicians' nicht spielen, schallt Velvet Underground und Massive Attack über den nächtlichen Berg. Undvielleichtkommtauchmickjagger.

Noch gibt es die Master Musicians, aber es fehlt an Nachwuchs. Die letzte Generation? Oder die erste Generation eines neuen Zeitalters? Jetzt ist die Zeit für Jajouka, behauptet die offizielle Promotion-Ansage. Nun, ich bin nicht davon überzeugt, ich denke, ihre große Zeit war schon. Das alte Jajouka kann man nicht zurückholen, man kann nur das Vorhandene bewahren, solange es authentisch ist. Jedem, der hier ehrlich mithilft, gebührt mein Respekt. Also dann doch: wenn nicht jetzt die Zeit ist für Jajouka, wann dann?

Das Fest wäre nur viel schöner, wenn dieser Riese, natürlich ein Amerikaner, sich nicht so oft in den Vordergrund spielen und dabei das romantische Bild dieses Kultes zerstören würde. Ständig beherrscht er die Szenerie, weil er mit seinem wuchtigen Zwei-Meter-Ballon ekstatisch vor den Musikern tanzt. Die Alten finden das natürlich ganz toll und amüsieren sich über seine ungelenken Bewegungen. Aber ich kann mich nicht konzentrieren. Ich will die Musik riechen.

"They are still living in a magickal world, to some extent. Did you ever notice the odor when the musicians are really cooking? Its like a crackling in the air, a mixture of ozone and incense. They can produce this scent with their music. To me, thats magic."

Abseits von dem kleinen privaten Rave, den wir in dem kleinen Gästehaus, das Brion Gysin bauen liess, feiern, kommt noch am ehesten etwas von dem Spirit rüber, den ich ansonsten vermisse. Ich erkenne plötzlich den Geruch der 'Städte der Roten Nacht'. Kleine Jungs in einer Männerkultur. Ich wünschte, ich würde ein Wort verstehen von dem, was das Dutzend Jungen, das sich rings um mich versammelt hat, mir zuruft. Sie scharren sich um ihre beiden Wortführer, die schon zwei, drei Jahre älter sind, keiner ist älter als zehn. Sie zeichnen einen dicken Schwanz mit Eiern in den Sand und kriegen sich nicht ein vor Kichern, zeigen andauernd in Richtung meines Geschlechtsteils, und mein Versuch, die Situation zu entschärfen, indem ich die Eichel zu einer Kirchturmspitze umforme und ein Kreuz obendrauf setze, hilft nicht viel. So cool mir das in dem Moment erscheint, vergesse ich doch kurz, dass hier Kirchtürme mit Kreuzen eher unbekannt sind, daher ernte ich auch nur verständnislose Blicke von den Kids. Ab und zu versucht einer, meinen Po anzufassen, ganz kurz, ist aber superstolz, wenn er es geschafft hat. Es sind die gleichen Jungs, die nachher zu der Musik der Masters so sexy tanzen werden, dass nicht einmal die kleinen kubanischen Mädchen beim Carnaval konkurrieren könnten. Leider scheint es mir so, dass genau dieser sympathische und authentische traditionelle Hintergrund verdrängt wird zugunsten einer besseren Medienkompatibilität. Das latent homosexuelle Image des Dorfes und des Festes ist im Islam zwar geduldet, doch Missverständnisse sind vorprogrammiert.

Brion Gysin war überzeugt, dass Jajouka eine Art Kloster war, eine Art militanter Priesterschaft, die antiken esoterischen Praktiken nicht abgeneigt war. Offensichtlich wurden kleine Jungs verkauft, eingekauft, gestohlen und ihnen wurde das Tanzen beigebracht, so dass große Rivalitäten entstanden. Diese Jungs waren die Blumen der jeweiligen Stämme. Ein Buch, das 1899 veröffentlicht wurde, spricht von einem "vaste coitatorium".

Ein Abend im Tanger Inn, der Bar unter der Villa Muniria, die nach ihrer letzten Transformation ein intimer Szene-Club für Einheimische und Transitreisende ist. Ein langer hübscher Marokkaner sitzt verloren hinter der Bar und wechselt die CDs. Ein paar alte Fotos von Kerouac und Burroughs zieren die Wände, doch weiß er ansonsten nicht viel, kennt die alten Bücher nicht. Aber da, der Papa des Jungen erkennt einen der 'Master Musicians', mit dem wir unterwegs sind und Pläne schmieden für die Festivals der nächsten Jahre. Wird es eine PA auf dem Berg geben oder nicht? Nächstes Jahr ist die Straße fertig und Strom gibt es für alle, also warum nicht. (Das heißt, dann gibt es auch Fernsehen. Das ist schlimmer als Strom.) Mit oder ohne Eintritt, mit Sponsoren? Toilettenhäuschen und Kioske mit Zigarettenpapier und Merchandising, mit den inzwischen zahlreichen Büchern und Videos über Jajouka, alle Aufnahmen in allen gängigen Formaten und natürlich T-Shirts und Sticker und Bildschirmschoner und Batik-Djellabas. Ein ganzes Dorf hat plötzlich zu tun, wenn einmal jedes Jahr hunderte von Ravern in diesen marokkanischen Bergort pilgern, der wie so viele Touristenattraktionen anfangs nur Geheimtip für ein paar verschworene Hippies oder in diesem Falle Beats war. Einheimische werden möglichst ferngehalten von dieser Ansammlung merkwürdiger Jugendlicher und anderer Verrückter, der Genuss von Alkohol und die Anwesenheit von Frauen ist nach wie vor ungebührend für den durchschnittlichen Moslem-marokkaner. Aber jeder halbwegs intelligente Dorfjunge bastelt sich sein eigenes Schafsfell-Kostüm und läuft den Ravern nach, bis die ein paar Dirham rausrücken. Betrunkene Amerikaner und bekiffte Engländer ziehen durchs Dorf, verteilen Chupa Chups an die Kinder und knipsen dabei Fotoserien.

Seit Anfang des 21.Jahrhunderts tanzt neben Boujeloud auch eine Frau - Hamouka, die Verrückte, die jedes Jahr von einer anderen prominenten Sängerin dargestellt wird. Nach der letztjährigen Fehlbesetzung mit Björk ist man gespannt auf die aktuelle Hamouka, die auch auf dem neuen Album singt. Seit dem international erfolgreichen Tribal-Techno-World-Crossover-Hit "Bouboubouboujeloud" und dem dazugehörigen Videoclip ist die Geschichte der wild um sich schlagenden Sagengestalt auch der Popwelt bekannt. Das neue Album "Hamouka", eher ruhigere Tanztitel durchsetzt mit Easy-Tribe-Anklängen, ist für die Sommersaison angekündigt.

(Videoclip) Paul B., William B. und Brion G. hocken in dunklen Djellabas völlig losgelöst in einer mit reichlich Sitzkissen ausgestatteten überdachten Ecke in dem quadratischen Hof des Hauses, in dessen Mitte die 'Master Musicians', zwanzig Männer in ihrer festlichen Tracht mit goldschimmernden Turbanen, ihre endlose Trancemusik spielen. Erst als die Kamera auf die Gesichter der Alten zufährt, erkennt man ihre markanten Gesichtszüge. Paul zieht kräftig an einer langen Kif-Pfeife und behält den Rauch so lange wie möglich bei sich. William mischt sich einen neuen Cola-Whisky und schüttet gerade nochmal Whisky nach. Brion ist wie immer am Plappern und unterhält beide wild gestikulierend mit irgendeiner alten Geschichte.

Zwischen ihnen sitzen und liegen ein paar kleine halbnackte Dorfjungs. Sie beobachten jede Bewegung der Alten und unterhalten sich leise in ihrer Sprache. Ab und zu machen sie sich einen Jux daraus, eine bestimmte Geste nachzumachen oder ein amerikanisches Wort nachzusprechen. Bei einem Wink der Alten springen immer sofort mehrere Jungs gleichzeitig auf, aber nur der Schnellste macht das Rennen, um neuen Tee oder sonst etwas zu servieren.

Jetzt hören wir Musik und Gesang, und eine merkwürdige Prozession taucht vor uns auf. Nackte Boys in Stiefeln aus halbverwesten Tierhäuten, aus denen die Maden kriechen, führen eine lange Reihe von Pferden am Zügel, auf denen nackte gefesselte Jünglinge sitzen. Die Kadaver-Boys tollen herum, wiehern, machen Bocksprünge und furzen und blecken ihre Zähne wie Pferde.

An einem Tisch an einer anderen Seite des Hofes amüsiert sich Debbie Harry mit zwei jungen hübschen Arabern. Betrunken wie sie ist, versucht sie ständig, den Männern unter ihre langen Umhänge zu greifen, um die dortigen Geheimnisse zu ergründen. Am Eingang kontrolliert der dicke Bill Laswell die Tickets der nachströmenden Zuschauer und kontrolliert die Gästeliste. Lee Renaldo kommt heute in Begleitung von Catherine Deneuve, und Donovan knutscht mit Brian Jones.

Einer der Kadaver-Boys erheitert seine Gefährten mit einem parodistischen Striptease, bei dem er ein erotisches Flötensolo spielt, während sein Schwanz ruckartig in die Höhe schnellt. Er streckt die Zunge heraus und ejakuliert, begleitet vom brüllenden Gelächter seiner Freunde. 23 marokkanische Tänzer ficken im Rhythmus von Gnaoua-Trommeln und schrillen Klappern. Gnaoua-Musik vertreibt böse Geister, die versuchen könnten, in den weiblichen Schoß einzudringen.

Boujeloud ist "on the run". Wild gestikulierend stürmt er in den Hof, ganz und gar in stinkende Schafs- und Ziegenfelle gehüllt, mit einer Mütze aus Fell und zwei Hörnern. Er peitscht mit seiner Rute, einem langen Lavendelzweig, in die Meute vor ihm, bis sie zur Seite weicht. Er wirft sich in Trance auf den Boden und rollt über den Platz zu den Musikern, die unbeeindruckt weiterspielen. Aber nun feuert der Ziegengott sie an, sie wechseln den Rhythmus, werden schneller und heftiger. Er tanzt wie ein Derwisch, und immer wenn seine Kopfbedeckung etwas nach hinten verrutscht, erkennt man die funkelnden, irren Augen von Genesis P-Orridge, der nach neuen Opfern sucht. Mickjagger! Ist er es wirklich? Genesis bleibt wie angewurzelt vor Mick stehen und beschnuppert ihn. Der lässt sich das erstmal gefallen und beruhigt mit einem lässigen Fingerzeig grinsend seine Leibwächter. Der stinkende Ziegenmensch wird zum verführerischen Weib, lüstern tanzt er vor Mick, hebt seine Felle hoch wie eine Flamencotänzerin den Rock und dreht sich mit einladenden Gesten vor dem Rolling Stone, bis er plötzlich vor dessen Füßen zusammenbricht.

In einem Schwall von flüssigem Gold erblickt man die Gestalt von Hassan i Sabbah, Meister der Djinns und Herr der Haschischin, die in die schlingernden Leiber der Boys einfährt, die mit leeren entrückten Gesichtern auf dem Trommelwirbel reiten wie auf einem bockenden Wildpferd aus lodernden Flammen. Allen Boys kommt es gleichzeitig, und die wölfische Fratze des Gottes Pan brennt sich wie eine glühende Sternschnuppe in ihren jugendlichen Gesichtern ein.

Abrupt steht Genesis vom Boden auf auf, beschnuppert Mickjagger erneut und läuft dann angewidert ein paar Schritte weg, dreht sich um und peitscht mit seiner Rute in die Luft. Er nähert sich von neuem, und ehe jemand reagieren kann, verpasst er Mick einen wirklich kräftigen Hieb in die Seite. Nun stürzen sich die Leibwächter auf Bou Jeloud und versuchen den wild gewordenen Genesis festzuhalten. Da kennen sie aber die Tradition schlecht: Bou Jeloud ist unantastbar. Sofort kommen ihm alle Männer des Dorfes zu Hilfe, auch die Musiker hören auf zu spielen, befreien Bou Jeloud und jagen Mick mitsamt seiner Crew aus dem Haus.

Ein erfolgreicher Komponist sagt zu seinem Schützling, einem jungen arabischen Dichter: "Pack die Klamotten, Titmouse. Gerade hab ich auf dem Socco Chico Willy Lee gesehen. Mit Interzone ist's vorbei."

* Veröffentlichung in Frankfurter Rundschau Magazin (4/2002) und Tanger Telegramm (2003) *